May 1, 2004

Ab Sonntag, dem 02.05.2004 veranstaltet die deutsche Honoré-Daumier-Gesellschaft aus Sammlerbeständen der Mitglieder in den Städtischen Museen Zittau die Ausstellung „Honoré Daumier – Aktueller denn je!“ – Europäische Visionen, unter Beteiligung der Herren Büsen, Josche und Prochnow, alle langjährige Bewunderer von Daumiers vielseitigem Werk. Die Einführungsrede wird von T. Metzen gehalten, die wir hier mit freundlicher Genehmigung des Redners wiedergeben. Wir freuen uns sehr über diese Initiative und hoffen, dass es den Ausstellern gelingen wird, die immer wieder verblüffende Aktualität von Daumiers Schaffen dem Besucher zu vermitteln.

Einführung von T. Metzen.

Der französische Kulturwissenschaftler und Daumier-Kenner Michael Melot hatte gewisslich recht, als er behauptete, ein jeder mache sich sein eigenes Bild von dem Künstler Honoré Daumier. Er zog daraus den Schluss, dass nur die jeweiligen Vorstellungen über diesen Maler gesellschaftliche Wirkungskraft entfalten, nicht die historische Person Daumier.

Dieser Gedanke trifft auch und in besonderem Maße auf die Mitglieder der Honoré-Daumier-Gesellschaft zu, die diese Ausstellung zusammengetragen haben. Deshalb ‚Vorsicht‘, verehrte Leser, sie erhalten hier ein Bild von Daumier, das durch Engagement und Wertschätzung, durch Faszination und Leidenschaft geprägt ist.

Michael Melot konstatiert überdies eine für ihn unerklärliche Neigung der Deutschen zu Daumier: „Die Beschäftigung mit Daumier scheint eher eine deutsche als eine französische Tradition zu sein.“ Recht hat er. Wir Deutschen stellen nämlich mit großem Bedauern fest, wir haben leider keinen deutschen Daumier, also nehmen wir uns einfach den Daumier unseres westlichen Brudervolkes.

Es ist an dieser Stelle unmöglich, Daumier in der ganzen Breite seines Werkes zu würdigen, seine 4000 Lithografien und seine 1000 Holzstiche zu beschreiben, oder sich seinen Gemälden oder dem Korpus seiner Zeichnungen zu nähern.

Unser Vorhaben ist, die Bilder zu seiner Vision Europa zu zeigen. Der Europagedanke ist für die Menschen des 19. Jahrhunderts noch ein ferner Traum, aber die Probleme, die sich ergeben, wenn man sich auf eine solche unzeitgemäße Vision einlässt, die hat Honoré Daumier in unvergleichlicher Art und Weise ins Bild gesetzt.

Eine erste Konfrontation mit diesen Bildern löst unangenehme Gefühle aus: Es vermengt sich Erstaunen mit Entsetzen. Erstaunen darüber, wie unverändert aktuell diese Bilder sind und Betroffenheit und Bestürzung, wie wenig sich doch, was die Konfliktfelder in Europa angeht, in den letzten 150 Jahren geändert hat.

Die hier versammelten Bilder Daumiers geben Auskunft über die politischen Übel seiner Zeit – aber wirklich nur seiner Zeit? Da wären die Kunstfigur des allgegenwärtigen Robert Macaire als Sinnbild des skrupellosen Finanzgauners, die Befangenheit und Käuflichkeit der Justiz, die hemmungslose Korruption der politischen Führungscliquen, die Börsianer und Spekulanten mit ihren gezinkten Karten, die von den politischen Spitzen der Gesellschaft betriebene unverantwortliche Schürung nationaler Vorurteile, die nicht selten in die Vorverurteilung Fremder und Andersgläubiger umschlagen und nicht zuletzt die als Friedenssicherung getarnte aggressive Hochrüstungspolitik.

Die Folgen, die sich aus dieser gesellschaftskritischen Bestandsaufnahme ergeben, die sind für Daumier von unausweichlicher Natur: So schafft man keinen Frieden in Europa, sondern nur beste Voraussetzungen für nächste kriegerische Auseinandersetzungen.

Wir, die wir heute diese etwa 150 Jahre alten Blätter betrachten, wissen kaum noch etwas von den einzelnen Begebenheiten dieser Zeit. Trotzdem scheint die Botschaft dieser Bilder leicht und eingängig zu sein, leichter eingängig jedenfalls als die das Bild kommentierenden Texte. Die Bildunterschriften nehmen oft Bezug auf tagesaktuelle Themen oder versuchen, die augenfällige Interpretation der Bildaussage in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das hatte damals seinen triftigen Grund. Pressefreiheit im heutigen Sinne gab es im 19. Jahrhundert weder in Frankreich noch in Deutschland. „Gedankenschmuggel“ (H. Heine) war angesagt.

Die Texte unter den Bildern mussten also oft dafür herhalten, den Sinn der Bilder zu verrätseln. Unter dem Regime von Kaiser Napoleon III. wurden die Zensurbestimmungen nochmals verschärft. Eine kritische Kommentierung innenpolitischer Ereignisse war verboten – eine Situation, die für Daumier schon zur unlieben Gewohnheit geworden war. Schon in der Regierungszeit Louis Philippes waren im Jahr 1835 neue Zensurbestimmungen in Kraft getreten. Nur in der Zeit nach der Julirevolution 1830–1835 und nach der Februarrevolution 1848–1851 herrschten einigermaßen erträgliche zensurärmere Zustände im Pressewesen Frankreichs. Wie viele Blätter insgesamt der internen Vorzensur der Redaktion und der externen Zensur des staatlichen Kontrolleurs zum Opfer fielen, ist unbekannt.

Manche werden sich vielleicht erinnern, dass Daumier wegen Verletzung der Pressegesetze in einem Pariser Gefängnis einsaß; er hatte den Monarchen Louis Philippe als Gargantua und die Justiz als Weißwäscher böse beleidigt und sich damit diese Strafe eingehandelt. Politische Karikaturen zu zeichnen war also damals nicht ganz ungefährlich, besonders dann nicht, wenn man die Mächtigen im Staate aufs Korn nahm.

Der Zensur fiel auch sein vielleicht berühmtestes Blatt zum Opfer, das auch hier in der Ausstellung gezeigte Blatt der „Rue Transnonain“. Es wurde gleich nach Erscheinen beschlagnahmt und vernichtet, nur die schon ausgelieferten Exemplare blieben erhalten. Wir zeigen die Zeichnung zusammen mit zwei anderen Blättern des jungen Daumiers, dem „Juli-Held“ und dem Blatt: „Es hat sich wirklich nicht gelohnt, dafür gestorben zu sein“. Alle drei Blätter sind Bilder, die vom Töten und vom Tode reden. Ein Thema, das Daumier Zeit seines Lebens beschäftigt hat, und das auch in dieser Ausstellung an zentraler Stelle steht.

Wenn wir uns diesen drei Blättern und dann anschließend den großartigen Bildern zu Krieg und Frieden in Europa zuwenden, dann stehen wir vor Bildvisionen, die eine verzweifelte Ruhe, großen Ernst und tiefe Tragik ausstrahlen. Sie erzählen vom Sterben und vom Tod und ähneln damit dem Bildervorrat, den wir aus der christlichen Ikonografie kennen, nur dass Daumiers Botschaft nicht von Heils- und Erlösungserwartungen getränkt ist, sondern nur von Hoffnungslosigkeit, Worten des Untrostes, des Unheils, des Grauens. Und das sollen Karikaturen sein?

Sind Karikaturen nicht Bilderrätsel, die dem Erkennenden ein befreites Lachen gönnen? Irgendetwas scheint mit unserem Begriff von Karikatur nicht zu stimmen – statt zündendem Witz nur Ratlosigkeit und Trauer. Doch wie sagte schon sein Freund Charles Baudelaire: Daumier hat aus der Karikatur eine ernste Kunst gemacht. Was mag das heißen?

Karikaturen, das sind Bilder von Gegenständen und Personen, denen die Ruhe weggenommen wurde, sie führen Deformiertes und Deformierte vor, sie kippen das scheinbar Normale und die scheinbar Normalen um und zeigen das Monströse und Hässliche an ihnen, ihr wahres Selbst, ihr sorgfältig verborgenes Alter Ego, ihre Nachtseite. Die Vorgestellten zeigen sich in Gestik und Mimik entlarvt, demaskiert, stehen plötzlich ohne den Schutz ihrer Charaktermaske da. Nur, wenn sie so tun, als sei nichts geschehen und sie sich bemühen, ihre deformierte Schönheit als eben besonders schön hinzustellen, dann können wir lachen – manchmal und mit bitterem Beigeschmack.

Der Traum einer europäischen Föderation taucht eigentlich erst am Vorabend der Revolution von 1848 auf. In vielen europäischen Ländern wird die Gleichartigkeit der politischen Forderungen nach mehr Freiheit und Demokratie erkannt und in Bilder verwandelt. Eine breite Bildproduktion setzt ein. Zahlreiche technische Errungenschaften erlauben eine Europäisierung des Bildes und die Bebilderung des Europagedankens. Doch der Europagedanke bleibt, so will es die Geschichte, ein schlafender Riese, das Bild verblasst zusehends mit dem leichtfertig verspielten Verlust der Errungenschaften in der 1848er Revolution. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, die nicht zuletzt betrieben wurden von einem imperial denkenden neuen Kaiser von Frankreich, rücken in den Interessensvordergrund der Öffentlichkeit. In ihr kommen mehr und mehr nationalistisch eingefärbte Denkmuster zu Wort, Tendenzen, die leider auch von Daumiers Kollegen bei der Zeitschrift Charivari ins Bild gesetzt wurden.

Daumier bemüht sich auch nach Errichtung des zweiten Kaiserreiches, politische Bilder im Charivari zu veröffentlichen, nimmt sich aber, um die scharfe Zensur zu unterlaufen, der kleinen und großen Konfliktherde in und am Rande Europas an. So entstehen Bildkommentare zu den Vorgängen in Italien, zu den blutigen Ereignissen im Verlauf des Krimkrieges, dem Spanien-Marokko-Krieg und dem England-Irland-Konflikt und nicht zuletzt zu der Preußisch-Österreichischen Auseinandersetzung.

All diesen Bildern scheint eines gemeinsam zu sein:

Mit überaus versteckten Hinweisen, die nur ein kundiger, wacher und geübter Betrachter entschlüsseln kann, baut Daumier seine Bilderrätsel auf. Daumiers Denunzierung barbarischer Unterdrückung aller Freiheitsbestrebungen in den Ländern Europas ist im Kern die Denunzierung der innen- und außenpolitischen Machenschaften eines autokratischen Despoten namens Louis Napoleon.

Erst relativ spät beschäftigt sich Daumier mit der Europa-Figur – er hat dann aber über 20 Lithografien zu diesem Thema gezeichnet. Sie erscheinen, bis auf wenige Ausnahmen zwischen August 1866 und März 1869.

Im Wesentlichen kreisen die Bilder um drei Themenbereiche:

1. das militärisch gestützte labile Gleichgewicht der Staaten Europas (équilibre européen).

2. die drohende Kriegsgefahr, ausgelöst durch eine allgemeine massive Hochrüstungspolitik.

3. der Konflikt Europa-Türkei. Wenn man nur strategisch denkt. Zur Frage der Behandlung von Menschenrechtsverletzungen in befreundeten Staaten.

Die Gestalt der Europa wird von Daumier symbolisiert durch die Gestalt einer jungen Frau in einem antikisierten Gewand, eine ernste und würdevoll auftretende Person, die zur besonderen Kennzeichnung eine Mauerkrone auf dem Kopf trägt. Diese Figur verwendet Daumier mehrfach. Sie tritt zuerst als Sinnbild des republikanisch gewünschten Frankreichs, als „La France“ auf; später findet sie auch Verwendung zur Allegorisierung der Stadt Paris oder des Friedens. Es ist immer die gleiche hagere und immer gefasst oder erschrocken dreinblickende Frau. In welcher Bedeutung sie auch immer erscheint, sie ist und bleibt eine tragische Figur der ersehnten Hoffnungen, der unerfüllten Wünsche, eine Figur, die in Daumiers Zeit noch nichts zu suchen hat. Tritt sie trotzdem auf, wird sie sofort mit den herrschenden Gewalten konfrontiert und stürzt in Not und Bedrängnis. Sie ist dann nur noch Spielball der Interessen der Großmächte. Sie balanciert im wahrsten Sinne des Wortes auf einer Bombe, deren Lunte schon gezündet ist. Sie ist eine Unmöglichkeitsfigur, denn sie kann um des lieben Friedens willen sogar Schwerter schlucken.

Aber warum bringt Daumier erst ab 1866 die Europa-Figur auf die Bühne des Charivari? Vielleicht können es die Zeitläufte selbst erklären. Daumier beobachtet die seit Jahren zunehmenden Kriegsaktivitäten des neuen Kaisers der Franzosen, eine bis dahin beispiellose Hochrüstungspolitik aller großen Nationen in Zentraleuropa, verbunden mit einer neuen Dimension von Tötungsapparaturen, der Erfindung des Zündnadelgewehres durch den Deutschen Dreyse und dessen Verbesserung durch den Franzosen Chassepot und der Entwicklung des Schnellfeuergewehres, der Mitrailleuse.

Und die Konfliktherde in Europa mehren sich, die alte Diplomatie hat abgedankt, Kriegsgott Mars regiert. Die Beherrschbarkeit all dieser Gewalttätigkeiten erfordert eine weitreichende, übernationale Friedenskonzeption, eine gemeinsame Anstrengung aller befreiten Völker Europas. Das vorfindbare Europa der imperialen Despotien jedenfalls führt in eine historische Sackgasse, die in einer schrecklichen Katastrophe enden muss.

Aus welcher mythologischen Quelle schöpft nun Daumier seine Mauerkronen-Europa? Die altgriechischen Städte „verlangten“ nach einer Gottheit zum Schutze ihres Gemeinwesens.

Eine solche Gottheit war nicht nur generell die Walterin über Glück und Unglück, sondern auch Herrscherin über Krieg und Frieden. Sie symbolisiert auch die gute Regierung, die ihre Bevölkerung in ihren Mauern zu schützen weiß: Deshalb trägt diese Gottheit die Mauerkrone auf dem Kopf. Ihr Name im Griechischen: Tyche.

Daumier verwendet sie, wie gesagt als Allegorie der „France“, ab 1866 erlebt diese Figur eine Generalisierung zur Europa hin – wohl mit dem Beigedanken, dass Frankreich mit seinen Revolutionen 1789, 1830 und 1848 den übrigen Völkern Europas ein Beispiel gegeben hat, wie man mit unerträglichen Zuständen fertig werden kann. Und was ist mit Deutschland? Welche Rolle spielt nach Daumiers Dafürhalten Deutschland in diesem Konzert von viel Krieg und wenig Frieden?

Daumiers Bild des guten Deutschland existiert nicht. Seine Beschäftigung mit seinem östlichen Nachbarn setzt erst zu dem Zeitpunkt ein, als die Politik Preußens der Politik von Napoleon III. immer ähnlicher wird. Das mühsam aufgebaute auch gerade von Heinrich Heine geförderte Bild: „Deutschland und Frankreich, die beiden edelsten Völker der Zivilisation“ blieb eine Phantasmagorie, nunmehr waren sie Feinde und Komplizen zugleich, einig nur in der Wahl der Strategie des Schreckens.

Hatte nicht Madame de Staël in ihrem seit 1815 in vielen Auflagen erschienenem Buch „D’ Allemagne“ das Nachbarland als Land der Dichter und Denker gefeiert (la patrie de la pensée)?

Und hatte nicht der exilierte Dichter und Wahlpariser Heinrich Heine in seiner Kritik an Madame de Staël ein differenzierteres und realistischeres, in Teilen durchaus positives Bild der Deutschen gezeichnet?

Und man darf auch nicht vergessen, dass es neben den geistigen auch durchaus reale Kontakte der Franzosen zu Deutschen gab. Nach der Julirevolution 1830 war Paris Ziel deutscher Handwerker, die in ihrer Heimat weder beruflich noch politisch eine Zukunft sahen. Waren 1830

erst 7000 deutsche Handwerker in Paris ansässig, so wuchs ihre Zahl im Jahre 1848 auf kaum zu glaubende 62 000. Von keiner Nation gab es einen größeren Ausländeranteil in Paris. Jeder 20. Einwohner in Paris war ein Deutscher. Ein außerordentliches und rühmenswertes Beispiel praktizierter guter Nachbarschaft. Heinrich Heine, der unfreiwillige Wahlfranzose, bringt die Sache auf den Punkt. Er schreibt am 14.9. 1842: „… ein Deutscher (könne) sich an keinem Ort der Welt so heimisch fühlen als eben in Paris, und Frankreich selbst (sei) am Ende unseres Herzens nicht anderes als ein französisches Deutschland.“

Die maßgeblichen Kräfte in der Politik auf beiden Seiten haben nach 1848 diese schöne Illusion zerschlagen. Das Deutschland, das östlich des Rheins unter Preußens Dominanz zusammenwuchs, war, wie man heute sagen würde, ein „militärisch-industrieller Komplex“. In den Augen von Daumier war die deutsche Einigung ein militärisch staatsstreichartiger Akt. Er entdeckte im neuen Deutschland höchstens das Spiegelbild seiner eigenen jüngsten Geschichte: den Cäsarismus als durchgängiges Regierungssystem in Mitteleuropa.

Deshalb malt Daumier in seinen Deutschlandblättern auch wieder nur Bilder von Krieg und Zerstörung, so wird Deutschland von Preußen erwürgt und der albtraumatisierte Bismarck wird selber vom Tod bedroht. Die „pazifike Mission“, an der ein Deutscher namens Heine und ein Franzose namens Daumier in ihrem Sprech- und Malamt gearbeitet haben, verschwindet im Kriegslärm.

Aber wir erinnern uns – solche Bilder, wie wir sie heute sehen, überdauern selbst die größte Barbarei. Sie bleiben unvergessen. Und das, lieber Michael Melot ist die Antwort auf deine provokante Frage: Was haben die Deutschen bloß mit dem Daumier? Keine Angst, wir wollen Herrn Daumier nicht germanisieren, sondern europäisieren.